Berlin, 27.11.25 Die Liga für unbezahlte Arbeit (LUA) e.V. warnt in ihrer Stellungnahme zum geplanten 13. SGB-II-Änderungsgesetz vor gravierenden Folgen für Menschen, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen. Sie kritisiert, dass die Reform die wichtigsten Risikofaktoren für Armut ignoriert und Fürsorgeverantwortung faktisch bestraft.
Grundsätzliche Position der LUA
Fürsorgeverantwortung ist selbst ein Risikofaktor für Armut. Wer Kinder betreut oder Angehörige pflegt, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, in den Bürgergeldbezug zu rutschen – und dort zu bleiben. Die Zahlen sprechen für sich:
- 41% der Alleinerziehenden sind armutsgefährdet
- 37,2% der Alleinerziehenden beziehen Leistungen nach dem SGB II
- Mindestens die Hälfte aller Menschen zwischen 25 und 65 Jahren trägt Fürsorgeverantwortung
Statt diese strukturellen Zusammenhänge anzuerkennen und die Rahmenbedingungen zu verbessern, behandelt die Reform Fürsorgeverantwortung wie ein individuelles Vermittlungshemmnis, das durch Druck und Sanktionen überwunden werden kann. Die Sprache des Entwurfs macht deutlich: Es gibt kein Verständnis dahingehend, dass Care-Arbeit kein persönliches Versagen ist, sondern gesellschaftlich unverzichtbar – und dass sie Zeit, Flexibilität und oft den Verzicht auf Vollzeitarbeit erfordert. Die Bundesregierung zeigt mit dem Entwurf, dass sie es normal und richtig findet, dass Menschen mit Care-Verantwortung benachteiligt werden.
Die Reform droht, Menschen für etwas zu bestrafen, das sie nicht ändern können – und trifft damit auch die Schwächsten: Kinder, Pflegebedürftige und Kranke. Wer bereits im Bürgergeldbezug ist, weil die Vereinbarkeit von Care und Erwerbsarbeit nicht funktioniert, wird durch die Verschärfungen noch stärker unter Druck gesetzt – ohne dass die strukturellen Probleme gelöst werden.
Konkrete Kritikpunkte und Vorschläge
1. Sanktionen: Zu hart und undifferenziert
NEU
- Bisher wurden Pflichtverletzungen abgestuft sanktioniert (10%, 20%, 30% Kürzung). Jetzt soll es sofort 30% Kürzung geben – egal ob es das erste Mal ist oder nicht.
- Nach drei verpassten Meldeterminen wird der gesamte Regelbedarf gestrichen (§ 32a). Nur die Miete wird noch direkt an die/den Vermieter*in gezahlt.
- Bei „Arbeitsverweigerung“ entfällt der Regelbedarf sofort komplett (§ 31a Abs. 7).
PROBLEM
Menschen mit Sorgearbeit verpassen häufiger Termine – nicht aus Unwillen, sondern wegen:
- Kranken Kindern (durchschnittlich 12 Fehltage pro Jahr und Kind)
- Kita-Schließungen (Streiks, Pandemien, Ferienbetreuungslücken)
- Pflegenotfällen bei Angehörigen
- Nicht verschiebbaren Arztterminen
- Unzuverlässigen Entlastungsangeboten
LUA-FORDERUNGEN
- Beibehaltung der Abstufung oder zumindest erweiterte Härtefallprüfung für Menschen mit Fürsorgeverantwortung
- Streichung des § 32a oder Ausnahmen für nachgewiesene Care-Notfälle
- Die Beweislast sollte nicht bei den Betroffenen liegen – das Jobcenter sollte auch aktiv Kontakt aufnehmen (z.B. telefonisch)
- Beim Totalentzug wegen „Arbeitsverweigerung“: Standardmäßige Härtefallprüfung, wenn Kinder oder Pflegebedürftige im Haushalt leben
2. Zumutbarkeit: Zu früh, zu unrealistisch
NEU
Bisher galt: Eltern müssen erst ab dem 3. Geburtstag des Kindes arbeiten, wenn die Betreuung gesichert ist. Jetzt soll das schon ab dem 1. Geburtstag gelten.
PROBLEM
- Bundesweit fehlen ca. 430.000 Kita-Plätze
- Öffnungszeiten (meist 7-17 Uhr) passen oft nicht zu Schichtarbeit, Wochenendarbeit oder langen Arbeitswegen
- Die Formulierung „soll darauf hinwirken“ ist unverbindlich und schafft keine reale Infrastruktur
- Für Kinder mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen fehlen oft geeignete Betreuungsangebote
LUA-FORDERUNGEN
- Beibehaltung des Schutzes bis zum 3. Geburtstag
- Oder: Konkrete Definition, wann Betreuung „sichergestellt“ ist:
- Platz muss tatsächlich verfügbar sein (nicht nur theoretisch)
- Betreuungszeiten müssen mit Arbeitszeiten vereinbar sein
- Eingewöhnungszeit muss berücksichtigt werden
- Ausfallzeiten (krankes Kind, Schließzeiten) müssen abgedeckt sein
- Arbeitszeiten außerhalb verfügbarer Betreuungszeiten sowie Schicht- und Wochenendarbeit ohne gesicherte Betreuung sollten als unzumutbar gelten
3. Nachweispflichten: Zu streng bei Überlastung
NEU
Eine neue Regelung (§ 41a Abs. 3 Satz 5) schließt verspätete Nachweise nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens komplett aus – selbst wenn jemand einen guten Grund hatte.
PROBLEM
Menschen mit Sorgearbeit sind oft zeitlich und organisatorisch überlastet. Wenn das Kind krank ist oder die Kita geschlossen ist, bleibt keine Zeit für Papierkram.
LUA-FORDERUNGEN
- Ausnahmeregelung für Menschen mit Fürsorgeverantwortung
- Oder: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Care-bedingter Überlastung
4. Wohnkosten: Neue Pflichten gefährden Mietverhältnis
NEU
Eine neue Regelung (§ 22 Abs. 1 Satz 9b) verpflichtet Leistungsberechtigte, ihre Vermieter*innen zu rügen, wenn die Miete gegen die Mietpreisbremse verstößt.
PROBLEM
- Das geht über normale Mitwirkungspflichten hinaus – es ist ein aktiver Eingriff in ein Rechtsverhältnis mit einem Dritten
- Die Durchsetzung der Mietpreisbremse ist eigentlich Aufgabe der Mietaufsicht, nicht der Mieter*innen
- Auch wenn eine Kündigung wegen Rüge rechtswidrig wäre, besteht faktisch ein hohes Risiko fürs Mietverhältnis
- Für Familien mit Kindern kann das existenzbedrohend sein
- Es führt zu verstärkter Diskriminierung am Wohnungsmarkt
LUA-FORDERUNGEN
- Ersatzlose Streichung dieser Regelung
Auch die verschärfte Auskunftspflicht für Vermieter*innen (§ 60 Abs. 6-7) könnte die Diskriminierung von Leistungsbeziehenden – besonders Familien – am Wohnungsmarkt verstärken.
5. Mittelbare Sanktionierung von Kindern
Wenn Eltern sanktioniert werden, fehlt das Geld für die ganze Familie – für Lebensmittel, Kleidung, Strom, Hygieneartikel. Kinder tragen aber keine Verantwortung für Pflichtverletzungen ihrer Eltern.
Rechtliche Bedenken
Dies steht in Spannung zu:
- Art. 1 und 20 Grundgesetz
- UN-Kinderrechtskonvention (Art. 3: Kindeswohl vorrangig)
- BVerfG-Rechtsprechung zu Sanktionen (Urteil vom 5.11.2019)
Fazit der LUA
Die Liga für unbezahlte Arbeit erkennt das Ziel an, Menschen wirksam in existenzsichernde Arbeit zu bringen. Aber: Die geplanten Verschärfungen berücksichtigen die besondere Situation von Menschen mit Fürsorgeverantwortung nicht ausreichend und können kontraproduktiv wirken.
Die Liga fordert, erst die strukturellen Voraussetzungen zu verbessern, bevor eine Verschärfung der Anforderungen in Erwägung gezogen wird:
- Ausbau der Betreuungsinfrastruktur
- Flexible Arbeitsmodelle
- Anerkennung von Care-Arbeit als gesellschaftlich unverzichtbarer Beitrag
Die Reform individualisiert strukturelle Probleme und wälzt sie auf einzelne Sorgearbeitende ab – statt die Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine nachhaltige Erwerbsintegration ermöglichen.


