
Status Quo
So sieht es aus: Sorgearbeit in Deutschland
In Deutschland werden jährlich 117 Milliarden Stunden unbezahlte Sorgearbeit geleistet – fast doppelt so viel wie die gesamte Erwerbsarbeit (60,6 Mrd Stunden). Frauen schultern dabei mit 72 Milliarden Stunden den Löwenanteil. (1)
Allein für Kinderbetreuung und Angehörigenpflege werden 40,3 Milliarden Stunden aufgewendet, davon mehr als zwei Drittel von Frauen. Würde diese Arbeit bezahlt, entspräche sie einem Wert von 1,2 Billionen Euro – einem Drittel des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Diese ungleiche Verteilung hat massive Folgen: Wer sorgt, verliert – bei Erwerbschancen, Einkommen und Rente.
Der Gender Care Gap beträgt 44,3%: Frauen leisten durchschnittlich 30 Stunden unbezahlte Sorgearbeit pro Woche, Männer 21 Stunden. (2) Diese Ungleichverteilung spiegelt sich auch im Mental Load wider: 18% der Mütter, aber nur 3% der Väter geben an, hauptverantwortlich für Familienorganisation und -planung zu sein. (3)
Die finanziellen Konsequenzen sind weitreichend: Das durchschnittliche Lebenserwerbseinkommen von Müttern liegt in Westdeutschland um 62% unter dem der Männer. In konkreten Zahlen bedeutet dies eine Differenz von 929.000 Euro. In Ostdeutschland beträgt der Unterschied 48% oder 536.000 Euro. (4) (Durchschnitt aus West und Ost: 732.000 Euro)
Das Altersarmutsrisiko von Frauen ist entsprechend höher: Die durchschnittliche Rente von Frauen beträgt nur 33% der durchschnittlichen Männerrente. (5)
Besonders dramatisch ist die Situation für pflegende Angehörige: Viele reduzieren ihre Arbeitszeit oder geben ihren Beruf vollständig auf. (6) Auch Alleinerziehende sind besonders stark von Armut betroffen. 41 Prozent gelten als armutsgefährdet und 37,2 Prozent beziehen Bürgergeld. (7)
Addiert man zu den Elternteilen mit Sorgeverantwortung (für Kinder und Jugendliche unter 18) (15,3 Mio) (7) die pflegenden Angehörigen, die in Voll- oder Teilzeit pflegen (7,1 Mio) (8) kommt man auf 22,4 Mio Menschen. Angenommen, dass diese Menschen zum allergrößten Teil zwischen 25 und 65 Jahren alt sind (44,7 Mio) (9), bedeutet das: Die Hälfte aller Menschen zwischen 25 und 65 Jahren trägt Fürsorgeverantwortung – Tendenz steigend.
Wer sich um andere kümmert, erleidet massive finanzielle Nachteile: reduzierte Erwerbsarbeitszeit, geringeres Lebenseinkommen, niedrigere Renten. Diese Benachteiligung trifft jeden Menschen, der Sorgearbeit übernimmt. Auch bei der Gesundheitsversorgung, der Stadtplanung und bei der Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben werden ihre Bedürfnisse kaum berücksichtigt.
Dass überwiegend Frauen von dieser Diskriminierung betroffen sind, ist dabei kein Zufall, sondern Folge traditioneller Rollenmuster. Doch der Fokus auf die Geschlechterdimension verdeckt oft den eigentlichen Kern des Problems: Es ist die Sorgearbeit selbst, die systematisch abgewertet wird.
Quellen
- Prognos AG (2024): Der unsichtbare Wert der Sorgearbeit. Berlin. https://www.prognos.com/de/projekt/der-unsichtbare-wert-der-sorgearbeit
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2024): Gender Care Gap – ein Indikator für die Gleichstellung. Berlin. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap
- Hans-Böckler-Stiftung (2023): WSI Report: Mental Load – Die unsichtbare Arbeit. Düsseldorf. https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008283
- Bertelsmann Stiftung (2020): Gender Lifetime Earnings Gap. Gütersloh. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/gender-lifetime-earnings-gap
- Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) (2023): Durchschnittlicher Rentenzahlbetrag von Frauen und Männern. https://www.wsi.de/de/einkommen-14619-durchschnittlicher-rentenzahlbetrag-von-frauen-und-maennern-14916.html
- DAK-Gesundheit (2024): DAK Pflegereport 2024. Hamburg.
- Bertelsmann Stiftung (2024): Factsheet Alleinerziehende 2024. Gütersloh. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/Factsheet_Alleinerziehende_2024.pdf
- Statistisches Bundesamt (2024): Pflegebedürftige nach Pflegestufe. Wiesbaden. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Tabellen/pflegebeduerftige-pflegestufe.html // https://www.vdk.de/themen/pflege/vdk-pflegestudie/
- Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2024): Deutschlandatlas – Altersgruppen der Bevölkerung. Berlin. https://www.deutschlandatlas.bund.de/DE/Karten/Wer-wir-sind/030-Altersgruppen-der-Bevoelkerung.html
Zahlen zeigen systematische Diskriminierung
Die strukturelle Benachteiligung von Sorgearbeitenden steht in direktem Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 2). Artikel 3 GG verbietet jede Form der Diskriminierung
– doch ausgerechnet die für unsere Gesellschaft so zentrale Sorgearbeit bleibt bisher ungeschützt.

Der Veränderungsbedarf ist offensichtlich:
Wir brauchen einen expliziten verfassungsrechtlichen Schutz vor Diskriminierung aufgrund familiärer Fürsorgeverantwortung.
Nur so können wir:

Sorgearbeit als gesellschaftlich notwendige Arbeit anerkennen

Geschlechterrollen von Sorgearbeit entkoppeln

allen Menschen ermöglichen, Sorgearbeit zu leisten, ohne Nachteile zu erleiden

und echte Gleichstellung erreichen.
Die Aufnahme des Merkmals „familiäre Fürsorgeverantwortung“ in Artikel 3 GG wäre damit mehr als ein Schutz für die heute überwiegend betroffenen Frauen, sondern ein entscheidender Schritt zur Überwindung alter Rollenbilder.